09.06.21

Wie Kunst Lust auf Gemeinschaft macht

Stuttgarter Zeitung. Nach Monaten voller Abstand wegen Corona ist die Sehnsucht nach Gemeinsamkeit groß. Ein Kunstprojekt an der Schorndorfer Stadtkirche beschäftigt sich mit ihren Facetten und lädt zum Mitdenken ein.

Wer hängt nach mehr als einem Jahr Pandemie nicht in den Seilen? Die Ausstellung „Gemeinschaft. Jetzt!“ in Schorndorf will neue Impulse geben. © Foto: Gottfried Stoppel

Schorndorf - Jede der 21 Figuren hängt in der Luft. Die eine streckt alle Gliedmaßen von sich, eine andere kauert sich zusammen, die dritte fläzt in der Hängematte. Jede ist für sich, doch alle sind in der Installation aus Teichfolie von Nina Joanna Bergold an das gleiche Seil geknüpft.
Wer will, kann in dem verbindenden Element das Coronavirus sehen, das jeder anders erlebt hat – die einen waren in der Pandemie erschöpft, die anderen einsam, die dritten hat das Herunterfahren des täglichen Lebens entspannt. „Es hat ganz viel durcheinander gebracht. Deswegen braucht es jetzt einen Impuls“, sagt Dorothee Eisrich, Pfarrerin der evangelischen Stadtkirchengemeinde in Schorndorf.

Die Kunst bleibt nicht in den Kirchennischen

Sie ist Teil einer achtköpfigen Gruppe, die das Kunst- und Kulturprojekt „Gemeinschaft. Jetzt!“ auf den Weg gebracht hat. Der Leitgedanke der Ausstellung von Stadtkirche, Kulturforum und Stadt sei schnell klar gewesen, erzählt Dorothee Eisrich: „Das war uns ein Anliegen. Viele waren während Corona isoliert, vieles ist auf der Strecke geblieben.“ Mit der am Sonntag beginnenden Ausstellung wird zudem an das Skulpturenprojekt aus dem Jahr 2017 angeknüpft, bei dem die leeren Nischen der Stadtkirche neu mit Kunst gefüllt worden sind.
Anders als vorgesehen haben die fünf beteiligten Künstler aber beschlossen, dass die Nischen jetzt nur mit Teilen des von Oliver Braig gestalteten Schriftzuges „Gemeinschaft. Jetzt!“ bestückt werden. Die Kunst selbst tritt hervor und bezieht die Umgebung mit ein. „Es ist toll, dass alle angefragten Besitzer von Nachbargebäuden mitmachen“, sagt Dorothee Eisrich, die das Ausstrahlen der Stadtkirche wichtig findet: „Das kann auch diejenigen inspirieren, die sonst keinen Bezug haben“, sagt sie.

Gemeinschaft nicht nur als Idylle

Nur wer sich selbst bewegt, kann die ganze Ausstellung erfassen. Der Stadtkirche sollte man sich am besten aus Richtung Schlichtener Straße nähern. Unter den bereits beschriebenen Figuren von Nina Joanna Bergold sowie unter dem ebenfalls von ihr gestalteten Baumhaus gelangt der Besucher zwischen zwei großen Bäumen hindurch auf den Kirchplatz.
Neben dem Südeingang der Kirche recken sich verkohlte Holzstämme gen Himmel, dazu sind Urwaldgeräusche zu hören. „Amazonia: Symphonie einer Erinnerung“ nennt der aus Brasilien stammende Künstler Francisco Klinger Carvalho seine Klanginstallation, die sich mit der Zerstörung des Regenwalds auseinandersetzt. „Wir wollten auf jeden Fall auch Künstler aus einem anderen Land, weil man Gemeinschaft nur international denken kann“, sagt Dorothee Eisrich, der es wichtig ist, Gemeinschaft nicht als Idylle zu verklären: „Teil der Wahrheit ist, dass schon viel kaputtgegangen ist.“

Die Ausstellung hat Mitmachcharakter

Das Trennende kommt auch bei den Keramikarbeiten von Lambert Mousseka zum Ausdruck, der in überdimensionale Kaurimuscheln Eibenstämme gepflanzt hat: „Zwei Elemente treffen sich, die in ihrer eigentlichen Umgebung niemals aufeinander treffen“, erklärt er sein Werk. Weit oben angebracht sind die beiden überdimensionalen Briefkästen von Helga Kellerer, aus denen Ferngläser drängeln. Ein Hinweis darauf, dass Briefe schreiben in Zeiten von Abstand halten wieder einen neuen Wert bekommen hat? Ein Briefkasten an der Stadtkirche lädt auf jeden Fall dazu ein, eigene Assoziationen zu Gemeinschaft zu nennen und an Helga Kellerer zu schicken.

Einen Mitmachcharakter hat auch das Werk von Oliver Braig, das sich um die Abkürzung OMG dreht. In welchen Situationen erschallt der Ruf „Oh mein Gott“? Ist OMG eine Floskel oder eine begeisterte Anrufung Gottes? Der Künstler will es wissen – deswegen wandert der Schriftzug durch verschiedene Gruppen und Einrichtungen, die ihre Gedanken dazu dann an ihn zurückgeben sollen.

Die Vernissage ist am Sonntag, 13. Juni 2021, um 18 Uhr. Eine Voranmeldung ist über die Homepage der Kirche möglich. Es gibt zudem ein umfangreiches Begleitprogramm mit Workshops, Künstlergesprächen und Führungen. Die Ausstellung endet am 31. Oktober.